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#Twittersperrt – Prozessuales Vorgehen gegen Account-Sperren

Aktualisiert am 10. Oktober 2022

Jack Dorsey, ehem. CEO des Mikroblogging-Dienstes Twitter, und Vijaya Gadde, Chefjuristin bei Twitter, stellten sich im Mai 2019 den Fragen des Podcasters Joe Rogan und des Journalisten Tim Pool. In der Diskussion ging es insbesondere um die in den USA heftig umstrittene Praxis von Twitter, Accounts zu sperren und Beiträge (sog. Tweets) zu löschen. Dorsey und die Juristin Gadde betonten dabei – von Pool auf umstrittene Fälle angesprochen – immer wieder die angebliche Gesamtbetrachtung durch Twitter im Rahmen jedes Einzelfalls. Die Realität in Deutschland sieht anders aus: In Deutschland werden regelmäßig Twitter-Accounts gesperrt. So zum Beispiel der Account des Autors Tom Hillenbrand (Heise) und des Juristen Prof. Dr. Arnd Diringer. Twitter gibt den gesperrten Nutzern vor der Sperre ihrer Accounts keine Gelegenheit zur Stellungnahme. My way or the highway, wie der Journalist Pool sagte. Was kann man als Nutzer gegen Sperren und  Löschungen durch Twitter, Facebook, LinkedIN etc. unternehmen?

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Inhaltsverzeichnis

  1. Fallbeispiele
  2. Abmahnung
  3. Einstweilige Verfügung – Antragsfassung
  4. Verfügungsanspruch und Nutzungsbedingungen der Plattformen
  5. Zustellung der einstweiligen Verfügung
  6. Erklärungsversuche von Twitter
  7. Stop Talking Start Acting
  8. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf

 

1.Fallbeispiele

#Twittersperrt (hierzu Heise und F.A.Z.). Der Account des Autors Tom Hillenbrand wurde 2019 gesperrt und blieb mehr als 200 Tagen gesperrt. Twitter reagiert nicht. Erst als der Schriftsteller seinen Tweet löschte, wurde sein Account wieder entsperrt.

Am 15. Dezember 2019 sperrte Twitter den Account des Juristen Prof. Dr. Arnd Diringer. Er hatte zuerst auf einen Tweet der Deutschen Bahn zu Greta Thunberg Bezug genommen. Sodann hatte er die Erklärung von Greta Thunberg wiedergegeben und damit die Äußerungen beider Seiten – DB und Thunberg – dargestellt (Tweet von Prof. Dr. Diringer hier). Als sich jemand an dem ersten Tweet von Diringer störte, reagierte er auf dieses Verhalten (nicht auf das von Greta Thunberg!) ironisch. Das „erfüllt in meinen augen den der gezielten GEGEN Greta Thunberg„, so beschwerte sich daraufhin eine Person auf Twitter. Sodann wurde Diringer gesperrt. Warum? Prof. Dr. Henning Ernst Müller (Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Universität Regensburg) schreibt zur Sperre von Herrn Prof. Dr. Diringer auf Twitter:

Wahrscheinlich hat der Algorithmus von Twitter die Aufforderung „Auf den Sch…haufen…“ als gegen andere gerichtet interpretiert. Dabei meinte @Arnd_Diringer satirisch übertrieben sich selbst.

Der Chefredakteur Welt am Sonntag Johannes Boie kommentiert die Sperre zutreffend wie folgt:

Twitter hat den sachlich argumentierenden, klugen Juraprofessor @Arnd_Diringer gesperrt. Ein neuer Tiefpunkt der sozialen Medien im Umgang mit der #Meinungsfreiheit. Ein neuer Erfolg fürs Denunziantentum.

Die Politikerin Nicola Beer kommentiert die Sperre von Diringer auf Twitter wie folgt:

„Twitter erweist der Debatte um #Hatespeech und #NetzDG gerade einen Bärendienst, indem ein intransparenter Algorithmus in den letzten Tagen die Accounts der Polizei NRW & von von Juraprof @Arnd_Diringer blockiert…#Totalversagen“.
 

Am 26. Dezember 2019 wurde Ali Utlu gesperrt, und zwar ohne dass ihm der sanktionsauslösende Inhalt mitgeteilt wurde. Auf eine Abmahnung reagierte Twitter nicht. Das Landgericht Köln hat -am 14. Januar 2020 eine einstweilige Verfügung gegen Twitter erlassen – 28 O 11/20 – und Twitter verboten, die Funktionen des Kontos des Antragstellers zu sperren oder einzuschränken, ohne die Gründe für die Sperre zu nennen.

Auch die Accounts von Rechtsanwälten werden immer wieder  gesperrt. Warum, wissen sie dann meist selbst nicht:

@KleinstadtRA hat mir gerade mitgeteilt, dass er den Grund für die Sperrung seines Accounts nicht kenne. Wenn er sich einlogge, stehe da nur, der Account sei gesperrt. Keine Mail oder Ähnliches. Er hat Twitter eine Frist bis Dienstag gesetzt.

Und wer Kritik am gendern übt, wird bei Twitter auch gesperrt (Twitter-User wird gesperrt, weil er schreibt: „Gendern ist totaler Müll“, Berliner Kurier, 6. Oktober 2022).

Ob bei Twitter eine Sperre durch Algorithmen (so die digitalpolitische Sprecherin der Links-Fraktion im Deutschen Bundestag, Anke Domscheit-Berg im Jahr 2022) oder durch Menschen (so Domscheit-Berg im Jahr 2019) erfolgt, ist nicht bekannt. 

Was kann man gegen Accountsperren gegen Twitter (gleiches gilt für andere soziale Netzwerke wie Facebook, LinkedIN, Instagram) in Deutschland unternehmen (siehe hierzu auch Laoutoumai/Löffel, Besteht ein Restore-Anspruch bei #twittersperrt?, K&R 2019, 447, hier frei abrufbar)?

2. Abmahnung

Die Webseiten unter www.twitter.com werden laut Impressum von Twitter in Deutschland angeboten von:

Twitter International Company, One Cumberland Place, Fenian Street, Dublin 2, D02 AX07, Ireland

Telefax: 1-415-222-9958 / E-Mail: de-support@twitter.com

Richtig lautet die Firma laut mit der Nummer 503351 laut der Eintragung im Companies Registration Office Irland  TWITTER INTERNATIONAL UNLIMITED COMPANY – siehe https://www.cro.ie/en-ie/About-CRO/Overview

Wer mit der Sperrung eines Tweets nicht einverstanden ist, kann bei Twitter Einspruch einlegen. Ein Einspruch bringt meist nicht. Im Gegenteil. Ein Einspruch kann die Situation verschlimmern. Das hat der Autor Hillenbrand getan, nachdem ihn Twitter aufforderte, einen Tweet zu entfernen. Nach dem Einspruch wurde sein Profil gesperrt (Breithut in Spiegel Online).

Erfahrungsgemäß hilft in vielen Fällen eine anwaltliche Abmahnung der Twitter International Company in Irland abmahnen. Wer richtig abmahnt, kann – wenn Twitter eine rechtswidrige Sperre nicht aufhebt – sodann im Eilverfahren gegen Twitter vorgehen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat nach erfolgter Abmahnung eine einstweilige Verfügung ohne mündliche Verhandlung erlassen und hierzu ausgeführt, das Recht des Antragstellers auf effektiven einstweiligen Rechtsschutz würde konterkariert, wenn zunächst eine mündliche Verhandlung durchzuführen wäre (Beschluss vom 7. Juni 2019 – Az. 11 O 3362/19 –hier abrufbar). Das Oberlandesgericht Oldenburg hat Facebook in einem Eilverfahren dazu verpflichtet, einen ursprünglich gelöschten Post wieder einzustellen. Die Sache sei – so steht es in der Pressemitteilung vom 3. Juli 2019 – derart dringlich, so dass im Wege einer einstweiligen Anordnung entschieden werden müsse (Urteil vom 1. Juli 2019 – 13 W 16/19 MMR 2020, 41).

„Denn anderenfalls laufe der Kläger Gefahr, dass Facebook einen nächsten, ähnlichen Post wiederum löschen und damit dem Kläger die Möglichkeit nehmen würde, seine Meinung frei zu äußern.“

3. Einstweilige Verfügung – Antragsfassung

Örtlich zuständig für ein Eilverfahren gegen soziale Medien wie Twitter ist das Gericht des Wohnsitzes des Anspruchstellers (Landgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 30. Juni 2020, 2-03 O 238/20). Wer bei einem Landgericht in Deutschland gegen die Sperrung eines Accounts und Löschung eines Tweets eine einstweilige Verfügung gegen den Betreiber des sozialen Netzwerks beantragen will, kann bei der Fassung seines Antrages auf eine Vielzahl von bereits ergangenen Entscheidungen zurückgreifen. Hier einige Beispiele aus der Praxis, die beantragt werden kann, Twitter zu verbieten, es zu unterlassen, einen konkreten Tweet des Antragstellers

zu löschen und/oder den Antragsteller wegen dieses Beitrags auf twitter.com zu sperren.

(Vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 23. März 2018, 31 O 21/18)

zu löschen und/oder den Antragsteller wegen dieses Beitrags auf twitter.com zu sperren (insbesondere, ihm die Nutzung der Funktionen von www.twitter.com wie Posten von Beiträgen) oder den Beitrag zu löschen.

 (vgl. Landgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 10. September 2018, 2-03 O 310/18)

zu löschen und/oder den Antragsteller wegen dieses Beitrags auf twitter.com befristet zu sperren oder ihm den Zugang zu den Funktionen befristet zu verschließen.

(Vgl. Landgericht Krefeld, Beschluss vom 14. Januar 2019, 5 O 10/19; Landgericht Bonn, Beschluss vom 21. August 2018, 9 O 221/18).

„zu löschen und/oder den Antragsteller wegen dieser Beiträge auf twitter.com zu sperren, insbesondere ihm den Zugang zu Funktionen wie Posten von Beiträgen zu verschließen, wenn dies geschieht wie am 13.05.2019 in Bezug auf den Account des Antragstellers „[ACCOUNT]“, abrufbar unter der URL „https://…“

(Landgericht Berlin, Beschluss vom 23. Mai 2019, 27 O 282/19; vgl. auch Landgericht Dresden, Beschluss vom 21. Juni 2019, Aktenzeichen 1a O 1056/19).

Das Landgericht Stuttgart hat in einem einstweiligen Verfügungsverfahren gegen die Linkedin Ireland Unlimited Company wie folgt entschieden (Beschluss vom 19. Juli 2022, 24 O 140/22):

„Der Antragsgegnerin wird es bei Meidung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000,00
EUR, ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft,
oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, für jeden Fall der Zuwiderhandlung untersagt,
die am 05.07.2022 erfolgte Deaktivierung des Linkedln Accounts […] des Antragsteller aufrechtzuerhalten.“

Dagegen ist die Fassung eines Antrags dahingehend, die Sperrung des Twitter-Accounts des Antragstellers wegen eines bestimmten Tweets „aufzuheben“ (vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 9. September 2018, 27 O 355/18) oder „rückgängig zu machen“ nicht zielführend, weil Gerichte bei dieser Antragsfassung teilweise dazu tendieren, einen Erfüllungsanspruch annehmen (vgl. Oberlandesgericht Brandenburg, Urteil vom 21. Juli 2022 – 10 U 65/22, vgl. auch Landgericht Offenburg, Urteil vom 26. September 2018 – 2 O 310/18) und eine einstweilige Verfügung nur unter besonderen, engen Voraussetzungen erlassen (vgl. auch Oberlandesgericht Oldenburg, Urteil vom 1. Juli 2019 – 13 W 16/19: „Dabei verkennt der Senat nicht, dass die einstweilige Verfügung auf eine Leistungsverfügung gerichtet ist und damit die Hauptsache vorwegnimmt. Das erscheint im vorliegenden Fall aber zu Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IV GG geboten. Der Senat schließt sich hier den Oberlandesgerichten Stuttgart (Urt. vom 23.01.2019 – 4 U 214/18) und München (Beschl. vom 24.08.2018 – 18 W 1294/18) an.„).

4. Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch

Ob das Gericht einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stattgibt, hängt erstens davon ab, ob ein Verfügungsgrund besteht. Die Sache muss für den Antragsteller dringend sein. Eilbedürftigkeit (Dringlichkeit) und damit ein Verfügungsgrund fehlen, wenn der Antragsteller keine Nachteile dadurch hat, dass er statt des einstweiligen Verfügungsverfahrens ein Klageverfahren durchführt (Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss vom 7. Oktober 2022, 3 U 2178/22 – Unmittelbare drohende Löschung eines Kontos als Verfügungsgrund). Denn einstweilige Rechtsschutz in der Form der einstweiligen Verfügung ist nicht Selbstzweck, sondern als Teil des Justizgewährungsanspruchs Teil des Anspruchs auf rechtsstaatlichen Gerichtsschutz. Allein das Bestehen einer formalen Rechtsposition bedingt nicht zwingend das im einstweiligen Rechtsschutz erforderliche dringende Schutzbedürfnis, welches fehlt, wenn für den Verfügungskläger im Falle seiner Verweisung auf das Hauptsacheverfahren keine Nachteile ersichtlich werden (Landgericht Düsseldorf, Urteil vom 20. Oktober 2011, 19 S 60/11).

Der Antragsteller muss daher konkrete Anhaltspunkte dafür darlegen und glaubhaft machen, dass die Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren dringlich ist. Die Gerichte legen dabei teilweise einen sehr strengen (vgl. Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 19. Mai 2022, 5 U 152/21) oder weniger strengen Maßstab an, so das Landgericht Köln (Beschluss vom 10. November 2022, 28 T 18/22)

„Entgegen der Auffassung in MüKo-ZPO/Drescher, 6. Auflage 2020, § 935 Rn. 90), aber in Übereinstimmung mit der Rechtsprechungspraxis des Oberlandesgerichts Köln, folgt die besondere Dringlichkeit aus der Tatsache, dass auch künftig mit entsprechender Reaktion der Antragsgegnerin auf gleichlautende Tweets des Antragstellers zu rechnen ist (vgl. KG, Beschluss vom 22.03.2019, 10 W 172/18, NJW-RR 2019, 1260, 1261, Rn. 11). Der Antragsteller möchte an einer noch nicht beendeten öffentlichen Debatte teilnehmen. Die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes würde seine Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG unangemessen einschränken.“

Richtigerweise sind bei der Sperrung oder Löschung eines Kontos bzw. bei Löschungen von Tweets/Posts stets die Besonderheiten sozialer Netzwerke zu berücksichtigen. Hierzu lesenswert das  Oberlandesgericht Köln in seinem Urteil vom 29. September 2022 – 15 U 43/22:

Bei Unterlassungsansprüchen ergibt sich die „Dringlichkeit“ zwar nicht schon aus der materiellrechtlichen Erstbegehungs- oder Wiederholungsgefahr, jedoch wird im Presse- und Äußerungsrechts ein Verfügungsgrund regelmäßig bejaht, wenn keine Selbstwiderlegung der Dringlichkeit von Seiten des Betroffenen gegeben ist. Auch wenn es sich bei der vorliegenden Konstellation – der Teilhabe an einem sozialen Netzwerk – nicht um das klassische Presse- und Äußerungsrecht handelt, für das die oben genannten Grundsätze entwickelt wurden, sind diese nach Ansicht des Senat hier vorsichtig übertragbar, da die Plattform der Verfügungsbeklagten in erster Linie dem Meinungsaustausch dient. […]

Mit Blick auf die besondere Interessenlage in sog. sozialen Netzwerken, bei denen der Betroffene mit seinen individuellen Kontakten und Vernetzungen regelmäßig keine (zumutbare) Möglichkeit hat, kurzfristig auf andere Anbieter auszuweichen, und mit Blick auf den Umstand, dass Auslandszustellungen an die Verfügungsbeklagte die Gewährung von Eil-Rechtsschutz noch innerhalb des aktuell laufenden Nutzungsentzugs oft fast unmöglich machen (zur fehlenden Anwendbarkeit des § 5 NetzDG zuletzt Senat, Beschl. v. 14.2.2022 – 15 W 3/22, zur Veröffentlichung bestimmt, anhängig beim BGH unter I ZB 10/22), ist aus Sicht des Senats jedenfalls die Titulierung (nur) von Unterlassungsansprüchen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchaus gerechtfertigt.“

(Hervorhebung hinzugefügt)

Zweitens muss, wenn es um die Löschung eines Posts/Tweets oder um eine Kontodeaktivierung geht, die vom Anbieter bereits wieder rückgängig gemacht wurde, eine Wiederholungsgefahr bestehen (vgl. Oberlandesgericht Dresden, Beschluss vom 18. Oktober 2021, 4 U 1407/21; Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 20. Januar 2022, 13 U 84/19).

Drittens muss ein Anspruch bestehen, dass ein Konto nicht gesperrt bzw. ein Tweet/Post nicht gelöscht wird. Bei der Registrierung auf einer Plattform wie Twitter wird ein Plattformnutzungsvertrag zwischen Twitter und dem Nutzer geschlossen (Specht-Riemenschneider, NJW 2019, 3687, 3689). Es handelt sich insoweit um ein Dauerschuldverhältnis im Sinne des § 314 BGB, weil das soziale Netzwerk dem Nutzer dauerhaft die Dienste der Plattform zur Verfügung stellt. Will der Nutzer einen Post veröffentlichen, besteht die Leistungspflicht des Betreibers des sozialen Netzwerks, dass der Tweet bzw. Post den Nutzern zugänglich gemacht und dauerhaft zum Abruf bereit gehalten wird.

Im Einzelfall geht es in den Fällen einer Account-Sperre und/oder der Löschung eines Tweets meist darum, ob die Löschung eines Tweets und die Verhängung einer Sperre nach den Nutzungsbedingungen vertragsgerecht und mit Blick auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz) gerechtfertigt ist. Die Frage, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen der Plattformbetreiber zulässige Meinungsäußerungen ausschließen dürfen, wird von den Gerichten und in der Literatur uneinheitlich beurteilt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 2019, BvQ 42/19; OLG Stuttgart, Beschluss vom 6. September 2018 – 4 W 63/18; OLG München, Beschluss vom 24. August 2018 – 18 W 1294/18; OLG Dresden, Beschluss vom 8. August 2018 – 4 W 577/18; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 15 W 86/18; LG Bamberg, Urteil vom  18. Oktober 20182 O 248/18; LG Offenburg, Urteil vom 26. September 2018 – 2 O 310/18; Landgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 10. September 2018 – 2-03 O 310/18; LG Heidelberg, Urteil vom 28. August 2018 – 1 O 71/18; vgl. auch Landgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 14. Mai 2018 – 2-03 O 182/18 zur Anwendbarkeit des NetzDG auf Messenger-Dienste; LG Görlitz, Urteil vom 29. November 2019, 1 O 295/19 EV, LG Berlin, Beschluss vom 23. Mai 2019, 27 O 282/19, Seite 7; OLG Dresden, Beschluss vom 19. November 2019 – 4 U 1471/19; LG Mannheim, Urteil vom 13. Mai 2020, 14 O 32/19 – GRUR-RS 2020, 10334; Laoutoumai‏, Recht Digital;  Magnus, Legal Tribune Online, 28. Mai 2019; Beurskens, NJW 2018, 3418; Elsaß/Labusga/Tichy, CR 2017, 234, 239; weitere Nachweise bei Specht-Riemenschneider, NJW 2019, 3687, 3689, Fußnote 29). Thomas Stadler, dessen Twitter-Account ebenfalls gesperrt war, schreibt zu der Frage, ob die Sperre in seinem Fall nach den Nutzungsbedingungen von Twitter vertragsgerecht sei, folgendes (Update vom 6. Mai 2019): 

„Mit Twitter vereinbart habe ich die Nutzungsbedingungen, die in dem Zeitpunkt galten, als ich mich vor über 10 Jahren angemeldet habe. Es handelt sich hierbei um AGB, die Twitter auch nicht einseitig ändern kann, die Änderung muss Twitter vielmehr mit mir vereinbaren. Wenn man also annimmt, es würde eine neue Regelung geben, dann kann ich dagegen schon deshalb nicht verstoßen, weil diese neue Twitter-Regel nie mit mir vereinbart wurde. Darüber hinaus ist es aber nach aktueller Rechtsprechung auch so, dass soziale Netze gewährleisten müssen, dass äußerungsrechtlich zulässige Postings nicht gelöscht werden. Die Sperrung meines Accounts durch Twitter stellt also eine klare Vertragsverletzung von Twitter mir gegenüber dar.“

(Vgl. Landgericht Dortmund, Urteil vom 1. Juli 2020, 5 O 301/19).

In einem Urteil vom 29. Juli 2021 (III ZR 179/20 zu Facebook) hat der Bundesgerichtshof klargestellt, wie die Nutzungsbedingungen von sozialen Netzwerken, die eine Löschung von Beiträgen und eine Sperrung von Nutzerkonten aufgrund eines Verstoßes vorsehen, ausgestaltet sein müssen. Damit ist unter anderem geklärt, dass die dauerhafte Deaktivierung eines Nutzerkontos regelmäßig nicht ohne vorherige Abmahnung, § 314 II S. 1 BGB, zulässig ist (hierzu Löffel, GRUR-Prax 2022, 214; Raue NJW 2022, 209, 213 Rn. 35 mwN; zur Nachholung der Anhörung Oberlandesgericht Frankfurt, 30. Juni 2022, 16 U 229/20, anhängig bei BGH unter III ZR 129/22). Die Abmahnung bzw. Benachrichtigung eines Nutzers zum Zwecke der Anhörung muss klar erkennen lassen, durch welche Handlung ein Nutzer gegen welche konkret bezeichnete Regelung der AGB des Betreibers verstoßen haben soll. Hierzu schreibt das Oberlandesgericht München (Urteil vom 20. September 2022, Az. 18 U 6314/20 Pre):

„Für einen interessengerechten Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen und damit die Wahrung der Angemessenheit im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist jedoch erforderlich, dass sich die Beklagte in ihren Geschäftsbedingungen dazu verpflichtet, den betreffenden Nutzer über die Entfernung seines Beitrags zumindest unverzüglich nachträglich und über eine beabsichtigte Sperrung seines Nutzerkontos grundsätzlich vorab zu informieren, ihm den Grund dafür mitzuteilen und eine Möglichkeit zur Gegenäußerung einzuräumen, an die sich eine Neubescheidung anschließt.“

Unter anderem das Anhörungs- und Begründungserfordernis wird von Betreibern wie Twitter in der Praxis regelmäßig missachtet.

5. Zustellung der einstweiligen Verfügung

Erlässt ein Gericht im Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung eine sogenannte Beschlussverfügung, folgen daraus für Twitter noch keine Pflichten. Die von einem deutschen Gericht erlassene einstweilige Verfügung, die sich gegen Twitter mit Sitz in Irland richtet, muss – davon ausgehend, dass sich für Twitter aus taktischen Gründen keine deutschen Anwälte für das Verfügungsverfahren bestellen – Twitter gemäß §§ 936, 922 Abs. 2 ZPO im Parteibetrieb (§ 191 ZPO) in Irland zugestellt und so vollzogen werden. Die Zustellung muss gemäß § 183 Abs. 1 ZPO vorrangig auf der Grundlage der EuZVO zu erfolgen, die unterschiedliche Wege für die Zustellung von gerichtlichen Schriftstücken vorsieht. Die Artt. 4 – 11 EuZVO beinhalten Regelungen zur förmlichen Zustellung, Art. 12 EuZVO betrifft die Zustellung durch diplomatische oder konsularische Vertretungen, Art. 14 EuZVO hingegen die Zustellung durch Postdienste und Art. 15 EuZVO schließlich die unmittelbare Zustellung. Jedoch kann ein Antragsteller grundsätzlich nicht zwischen den unterschiedlichen Zustellungsarten für gerichtliche Schriftstücke frei entscheiden, mit der Folge, dass ihm für die Zustellung grundsätzlich nur die unmittelbare, also parteibetriebene Zustellung nach Art. 15 EuZVO offensteht (Oberlandesgericht Frankfurt, 3. November 2021, 6 W 95/21). Hat Irland als Empfangsland eine Zustellung nach Art. 15 EuZVO ausgeschlossen, soll die eigentlich im Parteibetrieb vorzunehmende Zustellung ausnahmsweise durch eine Zustellung durch das Gericht nach § 14 EuZVO ersetzt werden (OLG Dresden, Beschluss vom 6. November 2018, 4 W 940/18).

Zur fristgerechten Vollziehung einer Unterlassungsverfügung gegenüber Twitter in Irland reicht es dann aus, wenn der Antragsteller innerhalb der Vollziehungsfrist die Auslandszustellung an Twitter beantragt und die tatsächliche Zustellung ohne jede vom Antragsteller zu vertretende Verzögerung bewirkt wird (Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 1. Juli 2014, 6 U 104/14).

Apropos Zustellung: Stellt das Gericht vor Erlass der einstweiligen Verfügung den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung in deutscher Sprache an das in Irland ansässige Unternehmen Twitter zu, ist dieses Zustellung wirksam. Die Verweigerung der Annahme wegen einer fehlenden englischen Übersetzung ist rechtsmissbräuchlich (vgl. Windau in ZPO Blog zu einer Zustellung an Facebook in Irland). Das Landgericht Dresden hat zur zweifelhaften Taktik von Twitter, die Zustellung von Dokumenten in deutscher Sprache abzulehnen, folgendes gesagt (Aktenzeichen 1a O 1056/19 EV):

Insofern kann dahinstehen, ob die Verfügungsbeklagte, der schon vom Landgericht Dresden mehrfach Schriftsätze in deutscher Sprache zugestellt wurde und die schon mehrfach unter Verweis auf die fehlende Übersetzung die Annahme verweigerte, sich hier nach dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben nicht auf die fehlende Belehrung berufen kann. Insofern kann auch dahinstehen, ob die Belehrung über die Annahmeverweigerung tatsachlich fehlte, da der im Tatbestand dargelegte Sachverhalt nahelegt, dass die Verfügungsbeklagte vor der zweiten Zustellung schon die Annahmeverweigerung — wohl hinsichtlich der ersten Zustellung — erklärte.“

Die Gerichte dulden solche Tricksereien, Gerichtsentscheidungen zurückzuweisen, nicht mehr (vgl. Oberlandesgericht München, Beschluss vom 14.10.2019 – 14 W 1170/19; Oberlandesgericht Dresden, Hinweisbeschluss vom 7. April 2020, Az. 4 U 2805/19; Oberlandesgericht Nürnberg, 6. April 2020, Az. 3 U 4566/19). Hierzu noch einmal Windau in einem lesenswerten Beitrag:

Dass ein Unternehmen sich zur Vertragsabwicklung in einer bestimmten Sprache verpflichtet hat, begründet die widerlegliche Vermutung, dass auch in einem Rechtsstreit mit dem Vertragspartner Zustellungen in dieser Sprache vorgenommen werden dürfen und verstanden werden.“

Wenn Twitter nach Zustellung einer einstweiligen Verfügung die Vorgaben des Gerichts nicht beachtet, kann wegen schuldhafter Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtung aus der einstweiligen Verfügung ein Ordnungsgeld festgesetzt werden. Das Oberlandesgericht Dresden hatte in einem Fall gegen Google 100.000,00 EUR als Strafe festgesetzt, weil ein zu Unrecht gesperrtes YouTube-Video verspätet freigeschaltet wurde (Oberlandesgericht Dresden, Beschluss vom 29. Juni 2021, 4 W 396/21): 

„Vor dem Hintergrund ist in der Zuwiderhandlung ein vorsätzlicher und – aufgrund der Zeitdauer – auch schwerer Verstoß seitens der Verfügungsbeklagten gegen die Unterlassungsverfügung zu sehen, der – auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Verfügungsbeklagten – die Verhängung eines deutlich höheren Ordnungsgeldes als vom Landgericht angenommen rechtfertigt. Nachdem es sich jedoch auf der anderen Seite um den Erstverstoß seitens der Verfügungsbeklagten handelt, hat der Senat davon abgesehen, das Ordnungsgeld auf den Höchstbetrag festzusetzen, sondern hält im Ergebnis der Gesamtabwägung die Verhängung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 100.000,00 € (noch) für ausreichend.“

6. Erklärungsversuche von Twitter

Zurück zu Twitter-CEO Jack Dorsey. Er sagte, von Sam Harris auf die Sperrpraxis in den USA angesprochen, Twitter benötige richterliche Entscheidungen konkreter Fälle, wie Twitter mit einer Verletzung der Twitter-Regeln umzugehen habe:

We need case law how we take actions“ (bei Sam Harris ab Minute 48:00).

Twitter äußert sich zu Sperren von Nutzern grundsätzlich nicht. Die Öffentlichkeitsarbeit von Twitter ist eine Katastrophe, schreibt der Rechtsanwalt Thomas Stadler zutreffend. Die Erklärungsversuche von Twitter im Rahmen einer Anhörung im Bundestag, wie es zu Sperren von Politikern, Medien und Juristen kam, sprechen für sich (Beuth, SPIEGEL ONLINE).

7. Stop Talking Start Acting

Was macht Twitter mit dem von Jack Dorsey gewünschten Case Law? Nichts. Eindrucksvoll zeigt dies das Beispiel des Schriftstellers Tom Hillenbrand, der mehr als 200 Tagen gesperrt war. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er:

Twitter ist ein globaler Konzern und verhält sich wie eine schmierige Versicherungsbude. Es gibt zwar eine deutsche Geschäftsführung, aber keine Adresse, an die man Abmahnungen und Einstweilige Verfügungen schicken kann. Die versuchen bewusst, sich zu verstecken und ignorieren Entscheidungen deutscher Gerichte.

Die Entwicklungen in seinem Fall beschrieb er in seinem Blog. Wir zitieren:

„Update (29. August): Hundertvierzehnter Tag der Sperrung. Um die gute alte Justitia vielleicht doch etwas in Schutz zu nehmen. Der wirkliche Bremser ist Twitter. Wir wissen, dass sie die EV bekommen haben. Ihre Anwälte hatte versprochen, Stellung zu nehmen und sind dann abgetaucht.“

Was sagte Jack Dorsey zu Sam Harris?

„..we have to take on an approach of impartiality, meaning we need very crisp and clear rules. We need case studies and case law for how we take action on those rules, and any evolutions of that, we’re transparent and upfront about.”

Case Law deutscher Gerichte scheint Twitter jedoch offensichtlich nicht zu interessieren.

8. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf

Die FDP hatte einen Vorschlag des Juristen Prof. Dr. Diringer aufgegriffen und fordert ein Meinungsfreiheits-Durchsetzungsgesetz:

Deswegen muss die jetzige Overblocking-Praxis durch Twitter öffentlich diskutiert werden. Konsequenzen müssen folgen. Denn es ist Aufgabe des Staates, auch im Internet für eine Umgebung zu sorgen, in der sich Meinungsfreiheit entfalten kann. Weil sich soziale Plattformen in den Bereich der Meinungsbildung begeben, müssen Grundrechte wie die Meinungsfreiheit mittelbar gelten, nicht nur von Unternehmen gesetztes Privatrecht wie AGBs und Nutzungsbedingungen. Deswegen fordern die Freien Demokraten ein Meinungsfreiheits-Durchsetzungsgesetz, wie jüngst von Rechtswissenschaftlern wie Prof. Diringer gefordert. Der Staat muss für die Durchsetzung von Meinungsfreiheit sorgen, auch in sozialen Netzwerken.

Rechtsanwälte wie Jonas Kahl, Dr. Christian Conrad und wir fordern seit längerem, dass soziale Netzwerke verpflichtet werden, für alle gerichtlichen Streitigkeiten eine Anschrift in Deutschland zu benennen. Denn was helfen Entscheidungen deutscher Gerichte in Eilverfahren gegen die Betreiber großer sozialer Netzwerke, wenn solche Gerichtsentscheidungen nicht schnell und einfach zugestellt und durchgesetzt werden können? Daher sollte die Betreiber Adressen in Deutschland angeben, an die Zustellungen im Rahmen von Gerichtsverfahren vor deutschen Gerichten bewirkt werden können. Die Zustellungsproblematik wurde zwar zumindest von Teilen der Abgeordneten im Bundestag erkannt. Die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg sagte in einer Sitzung am 16. Januar 2020:

„Soziale Netzwerke werden nach wie vor nicht gezwungen, in Deutschland Zustellungsbevollmächtigte für jegliche gerichtliche Post einzurichten.“

Der Bundestagsabgeordnete Dr. Jens Zimmermann von der SPD sagte im Anschluss:

„Das Thema des Zustellungsbevollmächtigten, den Sie auch wollen, muss noch besser geregelt werden“

Gehandelt hat die Politik bis heute nicht. Nur getwittert.

Oliver Löffel