Zivilrechtliche Eilverfahren in Zeiten der Corona-Krise
Die Justiz ist als tragende Säule des Staates systemrelevant. Im Zivilprozessrecht wird die Bearbeitung von dringenden Angelegenheiten und damit auch Eilverfahren vom weiterhin geltenden Justizgewährungsanspruch gemäß Art.19 Abs.4 Grundgesetz umfasst (Mantz, Die Dringlichkeit im Eilverfahren in Zeiten der Pandemie, WRP 2020, 533). Gut zu wissen, dass der Zugang zum Recht in dringenden Fällen gewährleistet bleibt, wie der Richterbund bekräftigt. Die Corona-Krise ist einschneidend, sie ist aber kein Grund, einen Stillstand der Rechtspflege nach § 245 Zivilprozessordnung (ZPO) herbeizuführen, so der Kölner Professor Dr. Prütting im Anwaltsblatt. Ein Stillstand der Rechtspflege wäre aus Gründen der Rechtssicherheit ein Albtraum (Windau in zpoblog). Unter anderem einstweilige Verfügungsanträge müssen in der Krise möglich bleiben und selbst Juristen, die eine Schließung der Gerichte fordern, plädieren für einen „Eildienst“ für einstweilige Verfügungsverfahren (Huff in Legal Tribune Online). Eilverfahren, wie sie zum Beispiel im Wettbewerbsrecht praktiziert werden, sind an sich wie für Zeiten von „Lockdowns“ gemacht. Stichwort: Social Distancing. Denn über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird in der Praxis meist ohne mündliche Verhandlung entschieden. 1. Unlautere Geschäftemacherei mit der Angst vor Covit-19 „Wenn sie sterben, dann spüren sie es, sie sind dabei ganz klar. Es ist, als würden sie ertrinken. Nur langsamer. So, dass sie alles mitbekommen.“ Jeder von uns versucht, sich nicht zu infizieren, doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Eine deutlich bessere Überlebenschance haben Sie, wenn Sie Ihr eigenes Sauerstoff Beatmungsgerät besitzen, das Sie notfalls auch mit ins Krankenhaus nehmen können.“ Das ist der Ausschnitt aus einer uns vorliegenden – grob irreführenden und betrügerischen – Werbung. In anderen Fällen wird dafür geworben, dass man sich mit homöopathischen Globuli vor dem neuartigen Coronavirus schützen könne. Die angeblichen Immun-Stärker gegen das Coronavirus, für die im Internet geworben wird, helfen nicht, wie ein Faktencheck zeigt. In den USA wurde sogar im Fernsehen für ein angebliches Anti-Corona-Mittel geworben, was eine Abmahnung des Bundesstaats New York zur Folge hatte (Abmahnschreiben des State of New York Office of the Attorney General hier abrufbar). In Deutschland kann eine irreführende Gesundheitswerbung aufgrund des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) verboten werden (Laoutoumai, Werbung in Zeiten der Pandemie COVID-19). Denn im Bereich der Gesundheitswerbung gilt das sogenannte Strengeprinzip: Wird in der Werbung auf die Gesundheit Bezug genommen, gelten besonders strenge Anforderungen an die Richtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der Aussagen, und zwar aufgrund der Bedeutung des Rechtsgutes Gesundheit für die angesprochenen Verkehrskreise sowie aufgrund der hohen Werbewirksamkeit von gesundheitsbezogenen Aussagen. Aus diesem Grunde darf mit gesundheitsfördernden Wirkungen nicht geworben werden, wenn diese wissenschaftlich nicht gesichert sind (Landgericht München I, Urteil vom 25. Juni 2015 – 17 HK O 219/15). Gegen irreführende Werbung können unter anderem Wettbewerber und Verbraucherschützer vorgehen. Die Wettbewerbszentrale hat zwischenzeitlich in mehreren Fällen einstweilige Verfügungen wegen irreführender Werbung mit Corona-Bezug erwirkt (LG Essen, Az.: 43 O 39/20; LG Düsseldorf, Az.: 34 O 26/20, LG Flensburg, Az.: 6 HK O 20/20; LG München I, Az.: 17 HK O 5079/20). Sehenswert hierzu das Zoom-Meeting von Prof. Dr. Thomas Hoeren und Dr. Reiner Münker. 2. Eilbedürftige und dringende Fälle im Zusammenhang mit COVID-19 Soweit bekannt gab es nur ein Gericht in Deutschland, das aufgrund der Corona-Pandemie bilsang einen Stillstand der Rechtspflege annahm. Das Landgericht Osnabrück teilte mit, dass man die Voraussetzungen von § 245 ZPO zumindest für den Zeitraum 23. März bis 20. April 2020 als eingetreten ansehe, „mit der verheerenden Folge, dass die Justiz dort stillgelegt wird“, wie die Rechtsanwaltskammer Düsseldorf schreibt. Unglaublich, aber wahr (Professor Dr. Klindt auf Twitter). Anders als das Landgericht Osnabrück sehen es wohl alle anderen Gerichte in Deutschland, die ihre Kernaufgaben weiter erfüllen. Lesenswert hierzu ein Brief der Direktorin des Amtsgerichts Mettmann: „Natürlich gehen die Ereignisse der letzten Woche nicht spurlos an uns vorüber. Wir alle sind besorgt. […]. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Anders als […] die vielen Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz bereits verloren haben oder um ihn fürchten, die vielen Selbstständigen, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind, […] sind wir keinem finanziellen Druck ausgesetzt. Wir wissen das. Allen Entscheidungen, die wir für unser Gericht getroffen haben, um mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie umzugehen, lagen und liegen deshalb zwei Ziele zu Grunde, für die sich alle Angehörigen des Amtsgerichts Mettmann mit aller Kraft einsetzen werden: Wir wollen die Erfüllung unserer Kernaufgaben gewährleisten und alles in unserer Macht stehende unternehmen, existenzielle Nöte und Sorgen derjenigen Menschen zu lindern, die mit unserem Gericht in Berührung kommen.“ Dass die Justiz weiterhin „eilbedürftige und dringende Entscheidungen“ treffen wird, wie auch der bayerische Justizminister Georg Eisenreich und der Richterbund betonen, ist richtig und wichtig. Denn ein Vorgehen zum Beispiel gegen irreführende gesundheitsbezogene Werbung ist eilbedürftig, will man Lügnern und Betrügern nicht für längere Zeit Tür und Tor öffnen. Um „skrupellose Geschäftemacher, die mit Angeboten jenseits von Gut und Böse mit der Angst der Bevölkerung spielen“ (Laoutoumai) schnell und effektiv zu stoppen, eignen sich auch und insbesondere einstweilige Verfügungsverfahren, gerade in Zeiten von „Social Distancing“. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2018 in einem presserechtlichen Verfahren klargestellt, dass einstweilige Verfügungen ohne mündliche Verhandlungen erlassen werden können, wenn der Antragsgegner richtig abgemahnt wurde und dadurch Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten hat (Löffel WRP 2019, 8 ff.). Diese Grundsätze werden auf den Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Wettbewerbsrechts übertragen (ausführlich Mantz, WRP 2020, 1250). 3. Erfordert COVID-19 Änderungen in der Praxis der einstweiligen Verfügung? Erfordert die Corona-Krise auch Änderungen in der Praxis der einstweiligen Verfügung? Will der Antragsteller gegen eine irreführende Werbung gerichtlich im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens vorgehen, darf er nicht zu lange warten, sondern muss dies innerhalb einer bei dem jeweiligen Gericht geltenden Regelfrist ab der Kenntnis des Rechtsverstoßes tun (sogenannte „Dringlichkeitsfrist“). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2018 bedeutet im Ergebnis einen deutlich gestiegenen zeitlichen und personellen Aufwand beim Antragsteller, bevor er den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragen kann (Mantz, WRP 2020, 416, 425). Daher ist – so Mantz – zu überlegen, ob die gerichtlich angenommenen Dringlichkeitsfristen generell oder jedenfalls im Einzelfall verlängert werden sollten. Die von mehreren Gerichten angenommene Regelfrist für die Dringlichkeit von einem Monat (zum Beispiel Landgericht Köln, 14 O 171/19), kann seit dem Zeitpunkt der durch die Corona-Krise bedingten Schulschließungen und den damit einhergehenden Einschränkungen des laufenden Betriebs in Unternehmen und der Justiz „auf das Notwendigste“ zu kurz sein. Besser wäre es, wenn die Gerichte in der Corona-Krise nicht an sonst üblichen Regelfristen festhalten, sondern stets eine Einzelfallwürdigung (unter Berücksichtigung der Art des Verstoßes, der Erforderlichkeit und der tatsächlichen Möglichkeit von Ermittlungen, der Möglichkeit des Zugangs der Abmahnung beim Gegner usw.) vornehmen, wie es bereits in der Vergangenheit gefordert wurde (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, 38. Aufl. 2020, UWG § 12 Rn. 3.15b). Die Dringlichkeit eines Verfügungsantrages wird zwar im Wettbewerbsrecht und auch im Markenrecht vermutet, sie kann aber vom Gegner widerlegt werden, wenn der Antragsteller zu lange mit der Einleitung des Verfügungsverfahrens wartet. Antragsteller sind daher gut beraten, im Einzelfall zu begründen, warum es wegen „Corona“ zu Verzögerungen gekommen ist (ausführlich zur Dringlichkeit in diesem Kontext Mantz, WRP 2020, 533). In der Praxis können Anwälte Verfügungsanträge via elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht einreichen, und zwar auch aus dem Homeoffice. Ein für eine irreführende Werbung zuständiges Landgericht kann durch den Vorsitzenden Richter als Einzelrichter entscheiden, wenn der Verfügungsantrag so eilbedürftig ist, dass das Zusammentreten der Kammer nicht abgewartet werden kann, § 944 ZPO. Gerade in Verfügungsverfahren in Zeiten von COVID-19 dürfte diese Voraussetzung leicht zu bejahen sein. Sind nämlich die Beisitzer im Gericht nicht regelmäßig anwesend, um den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu beraten und zu entscheiden, kann eine Zivilkammer nicht schnell zusammentreten. Die Mitglieder einer Kammer beim Landgericht können jedoch telefonieren. Nach telefonischer Beratung kann ein Mitglied der Kammer, das im Gericht anwesend ist, für alle drei Mitglieder der Kammer unterschreiben. Dadurch müssen „nur“ ein Richter und eine Person in der Geschäftsstelle anwesend sein. Mehr Social Distancing geht bei Gericht kaum. Ganz ohne physische Exemplare kann auch das einstweilige Verfügungsverfahren nach Erlass der einstweiligen Verfügung – mangels gesetzgeberischer Regelungen – noch nicht ablaufen. Denn eine einstweilige Verfügung muss von Richterseite unterschrieben und von der Geschäftsstelle des Gerichts ausgefertigt werden. Eine Beschlussverfügung muss dem Antragsgegner sodann zugestellt werden, was ein physisches Exemplar der gerichtlichen Entscheidung erfordert, welches der Anwalt des Antragstellers bei dem Gericht abholt oder vom Gericht zugeschickt bekommt. Es ist also noch nicht möglich, dass ein Einzelrichter eine einstweilige Verfügung erlässt und sie dann dem Anwalt des Antragstellers an dessen elektronisches Anwaltspostfach schickt, damit dieser die weitere Zustellung der Verfügung an den Gegner veranlassen kann. Eine dringend erforderliche Änderung betrifft das Erfordernis der Zustellung von einstweiligen Verfügungen durch den Gerichtsvollzieher (für den bereits unter taktischen Gesichtspunkten häufigen Fall, dass sich für den Antragsgegner kein Anwalt für das gerichtliche Verfahren bestellt hat). Nach § 191 ZPO gelten die Regelungen der §§ 166 ff. ZPO, soweit sich nicht aus den §§ 192 bis 195 ZPO Abweichungen ergeben. Gemäß § 192 Abs. 1 ZPO erfolgt die von den Parteien zu betreibenden Zustellungen durch den Gerichtsvollzieher. § 192 Abs. 1 ZPO sollte für den Fall der Vollziehung einer einstweiligen Verfügung dringend geändert werden. Denn abgesehen davon, dass Gerichtsvollzieher besseres zu tun haben, als einstweilige Verfügungen zuzustellen ist derzeit damit zu rechnen, dass einstweilige Verfügungen nicht innerhalb der Monatsfrist durch Gerichtsvollzieher zugestellt werden können. Die Monatsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO dient dem Schuldnerschutz und beinhaltet eine immanente zeitliche Begrenzung des einem Antragsteller gewährten Rechtsschutzes (Rehart, WRP 2011, 1041, 1043). Die mögliche Lösung ist einfach und überfällig: Der Gesetzgeber sollte in der ZPO klarstellen, dass die Parteien einen Anwalt unmittelbar mit der Ausführung der Parteizustellung einer einstweiligen Verfügung beauftragen können. Der Anwalt kann dann dem Antragsgegner eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift der Ausfertigung zustellen, etwa per Post, ebenso wie bei der Zustellung von Anwalt zu Anwalt, ohne dass man Gerichtsvollzieher hierzu einschalten muss. 4. Gerichte nutzen Videokonferenzen Legt der Antragsgegner Widerspruch gegen die ihm zugestellte einstweilige Verfügung ein, muss mündlich verhandelt werden (§§ 936, 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Dann treffen sich zumindest die Anwälte der Parteien vor Gericht, auch in der Corona-Krise, zum Beispiel bei dem Landgericht München I. Hier gibt es Alternativen: § 128a ZPO ermöglicht eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung, so dass sich Parteien, ihre Bevollmächtigten, Zeugen und Sachverständige während der Verhandlung bzw. Vernehmung an einem anderen Ort aufzuhalten können (grundlegend Mantz/Spoenle, Corona-Pandemie: Die Verhandlung per Videokonferenz nach § 128a ZPO als Alternative zur Präsenzverhandlung, MDR 2020, 637-644; Windau in Legal Tribune Online, 11. März 2020). Videoanhörungen können etwa im Rahmen einer Webex Videokonferenz durchgeführt werden (hier ein Beispiel für eine Terminsbestimmung für ein Webex-Meeting), wie zum Beispiel in Patentstreitverfahren in den Niederlanden („The court’s technical facilities (a Cisco-based conferencing system allowing access to the hearing using a common web browser) made it possible…„). Das Landgericht Düsseldorf hatte bereits am 31. März 2020 in einer Pressemitteilung verkündet, dass es die Möglichkeit einer Videokonferenz zur Durchführung von mündlichen Verhandlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 128a ZPO erleichtert. Weitere Gerichte folgten dem Beispiel des Landgerichts Düsseldorf. Die Gerichtsverwaltung des Landgerichts Hannover hat empfohlen, vermehrt Videokonferenzen einzusetzen. Bis zum 4. Mai 2020 sollten in allen Gerichtssälen des Landgerichts Hannover die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit überall Verhandlungen per Videokonferenz stattfinden können. Und auch Baden-Württemberg zeigt wieder einmal, dass man dort alles kann (wenn man nur will): Jan Spoenle, Richter am Landgericht, berichtet auf Twitter sehr lesenswert, wie gut seine erste Verhandlungen gem. § 128a Abs. 1 ZPO gelaufen sind: „Das erste Verfahren mit zwei Anwälten, beide in der Kanzlei, einer davon mit iPad, lief hervorragend. Bild- und Tonqualität waren völlig ausreichend. Die Rechtsanwälte wollen künftig mehr davon.“ Anwaltliche Erfahrungsberichte zu Videoverhandlungen haben wir unten zusammengestellt. Leider fehlt es in den meisten Gerichtssälen in Deutschland noch an der dafür erforderlichen Technik. Die Ablehnung eines Antrages auf Teilnahme an einer Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung „Für die Ermessensausübung ohne Relevanz ist es, ob an dem jeweiligen Gericht die dafür erforderliche Technik vorhanden ist. Denn die Gerichte dürften schon seit 2018 verpflichtet sein, die erforderliche Technik vorzuhalten; die Erwartung des Gesetzgebers, die Justizverwaltungen würden die damit verbundene Kostenentlastung erkennen und die Gerichte entsprechend ausstatten, hat sich nicht bewahrheitet und kann damit für die Auslegung der Vorschriften nicht (mehr) maßgeblich sein. Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie wird sich ein solcher Anspruch auch aus den auch die Justizverwaltungen treffenden Schutzpflichten aus Art. 2 II 1 GG ergeben, weil sich mittels Videokonferenztechnik Infektionsrisiken mit relativ überschaubaren finanziellen Mitteln erheblich reduzieren lassen. Gestattet das Gericht eine Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung, fehlt es aber an der erforderlichen Technik (worauf das Gericht sinnvollerweise hinweisen wird), obliegt es dem jeweiligen Beteiligten, einen Anspruch auf entsprechende Ausstattung gegenüber der Gerichtsverwaltung geltend zu machen.“ Die Gerichte brauchen also dringend ein Corona-Update, und zwar eine zeitnahe Ausstattung der Sitzungssäle mit (zeitgemäßer) Videokonferenztechnik. Sonst drohen massive Verfahrensverzögerungen, so Windau in F.A.Z. Einspruch (26. März 2020). Nach einem bislang nicht veröffentlichten Entwurf eines Gesetzes zur Reform des ArbGG könnte es in Deutschland demnächst so etwas wie „Online-Courts“ oder „Remote-Courts“geben – Gerichtsverhandlungen die vollständig online stattfinden und ohne einen physischen Gerichtssaal auskommen (hierzu Windau in zpoblog und Jung in F.A.Z. Einspruch, Gerichtsverfahren bald per Video-Schalte). Als Lehre aus der Coronavirus-Krise fordert auch der Deutsche Richterbund eine raschere Digitalisierung im Justizwesen (beck-aktuell am 26. März 2020). Die aktuelle Krise werfe ein Schlaglicht auf Lücken bei der IT-Ausstattung, Engpässe in den Datennetzen und die Probleme beim Umstieg auf den elektronischen Rechtsverkehr, was auch Vertreter der Legal Tech Szene zu einem offenen Brief an Politik und Justiz veranlasste (Legal Tribune Online). Gut zu wissen, dass Corona manchen Gerichte bereits infiziert hat, wie Helena Hauser und Kai Nitschke in JUVE Rechtsmarkt schreiben (Mai 2020, S. 34 ff, hier frei abrufbar). Soweit die Justizverwaltung mit der Digitalisierung noch nicht so weit ist, gehen Gerichte dazu über, für eine Übergangszeit zunächst im schriftlichen Verfahren zu entscheiden und – so schreibt uns zum Beispiel das Landgericht Frankfurt am Main am 21. April 2020 nach unserem Antrag auf Verhandlung im Videokonferenzwege – sodann „erst im Anschluss wieder mündlich zu verhandeln oder, sofern die hessische Justizverwaltung die Möglichkeit zur Verhandlung nach § 128a ZPO bereitstellen sollte, gegebenenfalls zunächst von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Der vorliegende Rechtsstreit erscheint für eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren geeignet. Es ist beabsichtigt, einen Verkündungstermin auf den 10.06.2020 anzuberaumen und den Schriftsatzschluss auf den 20.05.2020 zu bestimmen. Damit dies gewährleistet werden kann, ist es erforderlich, dass die Parteien bis zum 27.04.2020 per beA mitteilen, ob sie einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zustimmen.“ Es liegt jetzt an der Politik und den Justizverwaltungen, endlich für die konsequent Digitalisierung der Justiz zu sorgen (vgl. Paschke, MMR 2019, 563 sowie Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, Diss. 2018). Bezugnehmend unter anderem auf Paschke, Eschenhagen (Öffentlichkeit in Online-Gerichtsverhandlungen) und aktuelle Gesetzesänderungen in der Schweiz thematisiert Dr. Martin Fries (LMU München) sehr sehenswert, wie man die Öffentlichkeit bei Onlineverhandlunen auch unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bedenken einbeziehen kann (Die vollvirtuelle Verhandlung – Quo vadis, § 128a ZPO?). Am 2. und 3. Mai 2020 fand eine Online-Tagung zum Thema „Das Verfahrensrecht in den Zeiten der Pandemie“ der Universität Köln statt. Die Vorträge sind als Video hier abrufbar. Im Landgericht Düsseldorf haben am 6. Mai 2020 in zwei Verfahren die ersten mündlichen Verhandlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 128a ZPO stattgefunden (Pressemitteilung des Landgerichts). Der Frankfurter Prozessanwalt Nikolaus Rehart war einer der Pioniere, der als Parteivertreter daran teilgenommen hat. Er berichtet auf Twitter: Auch die 27. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg nutzt nun die Möglichkeit der Videoverhandlung, wie uns der Prozessanwalt Dr. Morton Douglas (Friedrich Graf von Westphalen) nach einer Verhandlung am 7. Mai 2020 berichtet. Bereits am 30. April 2020 hatte die 7. Zivilkammer des Landgerichts München I in einem Patentstreitverfahren die erste mündliche Verhandlung mit einer neuen mobilen Videokonferenzanlage erfolgreich durchgeführt – der „Zivilprozess der Zukunft“, wie es in der Pressemitteilung des Landgerichts München I heißt. „Auch unabhängig von der derzeitigen Situation werden wir die Digitalisierung beim Landgericht München I weiter vorantreiben. Die neue Videokonferenzanlage ist hierzu ein wichtiger Baustein. Justiz ist für die Menschen da – analog und digital!“ Ohne Masken ging es in diesem Verfahren allerdings auch nicht. Auf die Frage zu Schutzmasken, welche dem Vorsitzenden Richter der 7. Zivilkammer auf LinkedIn gestellt wurde, antwortet dieser am 7. Mai 2020 auf LinkedIn: „The masks were necessarry in view to risks of infection. We had a considerable physically present public audience (not shown in the picture due to privacy concerns).“ Die Entwicklung der Videoverhandlung im Zivilprozeß erinnert jedenfalls stark an die Entwicklung bei virtuellen Hauptversammlungen. Manche Anwälte und Richter haben ebenso wie manche Unternehmen und Anteilseigner bereits damit begonnen, virtuelle Verhandlungen bzw. virtuelle Versammlungen durchzuführen. Andere brauchen noch den „Mut zum Quantensprung“, so die Überschrift eines Beitrages von Tom Levine, Digital Director der Unternehmensberatung Brunswick, am 3. Juni 2020 im Handelsblatt (S. 48, die komplette Ausgabe des Handelsblatts vom 3. Juni 2020 ist hier frei abrufbar). Er schreibt zur virtuellen Hauptsversammlung, und nichts anderes gilt für Richter und Anwälte im Hinblick auf die virtuelle Verhandlung im Zivilprozess, folgendes: „Covid-19 schiebt uns überall mit Macht ins digitale Zeitalter. [….] noch ist nicht ausgemacht, in welche Richtung. Digitalisierung treibt Transparenz, Geschwindigkeit und die Möglichkeiten zur Interaktion. Wer davon profitieren will, muss jetzt mitmachen, ausprobieren und mitgestalten. Für Nachzügler ist die Lernkurve steiler. Und ihr Risiko ist hoch, kommunikativ zu den Verlierern zu zählen.“ 5. Die Unverbesserlichen Leider gibt es Richter, die Anträge auf eine Videoverhandlung nach § 128a ZPO mit wenig überzeugender Begründung ablehnen. Solange eine Justizverwaltung die Möglichkeit zur Verhandlung nach § 128a ZPO noch nicht bereitgestellt hat, bleibt Richtern zwar an sich nichts anderes übrig, als etwa vorzuschlagen, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Wenig überzeugend ist es aber, wenn Richter Ende Oktober 2020 – zur gleichen Zeit, in der sich Politiker mit Warnungen überschlagen (vgl. Bundeskanzlerin Angela Merkel am 25. Oktober 2020: „Es stehen uns sehr, sehr schwere Monate bevor […] So kann es nicht weitergehen.“) – schreiben: „Dem Kläger wird zum Schriftsatz vom 13.10.2020 mitgeteilt, dass die 1. Kammer für Handelssachen von der durch die Vorschrift des § 128a ZPO eingeräumten Möglichkeit der Verhandlungsführung – generell – keinen Gebrauch macht.“ Bemerkenswert ist es auch, wenn Richter noch im Oktober 2020 schreiben: Ein Gericht aus Bayern lehnte im Oktober eine Videoverhandlung mangels vorhandener Technik ab [was nach Ansicht von Windau, a.a.O. ermessensfehlerhaft ist] und wies darauf hin, man könne ja einen Unterbevollmächtigen oder Terminsvertreter entsenden. Fraglich erscheint auch die Begründung eines Landgerichts aus dem hohen Norden, mit dem die Anträge der Parteien auf eine Videoverhandlung zurückgewiesen wurden. Wir zitieren aus einem Beschluss vom 16. Juni 2020 (anonymisiert hier abrufbar): „Die Anträge der Parteien auf Durchführung der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gemäß § 128a ZPO werden zurückgewiesen. […] Daher ist eine Videokonferenz nur bei Vorliegen besonderer Gründe anzuordnen. Diese liegen nicht in dem Wunsch von überregional tätigen Parteien oder Parteivertretern, zu dem Termin nicht anreisen zu wollen. Denn diese Lästigkeit ist Folge Ihrer frei gewählten beruflichen Tätigkeit. anreisen zu wollen. Wenn die Sache eine ausführliche Verhandlung vor Ort nicht erfordert, steht den Parteien auch durch Einschaltung von Unterbevollmächtigten, dem einvernehmlichen Einverständnis mit der Entscheidung des Vorsitzenden sowie der Beantragung des schriftlichen Verfahrens gemäß § 128 Abs. 2 ZPO für das Gericht weniger aufwändige Möglichkeiten zur Verfügung, ein Erscheinen vor Gericht zu vermelden. Es ist den Parteien zuzumuten, zunächst diese Möglichkeiten zu ergreifen.“ Eine solche Einstellung erscheint bereits mit Blick auf das Übertragungsrisiko des Coronavirus in der Luft über sogenannte Aerosole, mögliche Folge- und Spätschäden des „Multiorganvirus“ sowie die von den Gerichten immer wieder betonten Schutzpflichten des Staates (Nachweise unten) nicht unbedenklich. Aus dem dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz folgt eine Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit gegenüber den durch das Corona-Virus bewirkten Gefahren, wie die Verwaltungsgerichte in aktuellen Entscheidung immer wieder betonen (vgl. nur OVG NRW, 13 B 557/20.NE und VGH Hessen, 8 B 1446/20.N). Zur Reduzierung des Ansteckungsrisikos und zur Bewältigung der Pandemie wird zum Beispiel am Landgericht Nürnberg Besuchern, Anwälten und Parteien beim Betreten des Gerichtsgebäudes mit einem kontaktlosen Gerät Fieber gemessen, und zwar auch am 8. Juli 2020. Und freilich gilt dort folgende Pflicht: Erstaunlich ist es schließlich, wenn Richter eine beantragte Videoverhandlung ablehnen, weil am Terminstag kein Saal für die Videokonferenz zur Verfügung steht. In solchen Fällen stellt sich schon die Frage, warum sie den Termin nicht auf einen Tag verlegen, an dem der Saal für die Videokonferenz zur Verfügung steht. [Zuletzt ergänzt am 26. Oktober 2020]
kann jedoch an sich nicht auf technische Gründe gestützt werden (v. Selle, BeckOK ZPO, § 128 a
Rn. 2.2). Die Ansicht vertritt auch Windau, NJW 2020, 2753 Rn. 19: