One Moment in Time – Unterlassung und Leistung im zivilrechtlichen Eilverfahren

Der Erfolg eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hängt unter anderem davon ab, ob ein Verfügungsgrund vorliegt. In manchen Eilverfahren kann es entscheidend darauf ankommen, das Gericht davon zu überzeugen, der Interessenabwägung und den Umständen des Einzelfalls mehr Gewicht beizumessen, als streng dogmatisch zwischen Unterlassungs- und Leistungsverfügung zu unterscheiden.

Leistungsverfügung – Notlage erforderlich?

Die deutsche Zivilprozessordnung unterscheidet zwischen der Sicherungsverfügung (§ 935 ZPO) und der Regelungsverfügung (§ 940 ZPO).

Ein Unterfall der Regelungsverfügung ist die sogenannte Leistungsverfügung. Die Leistungsverfügung ist auf die vorläufige Erfüllung eines Anspruchs gerichtet. Daneben gibt es die Unterlassungsverfügung, wie sie im gewerblichen Rechtsschutz und im Wettbewerbsrecht üblich ist. Sie ist eine Mischform aus Sicherungs- und Leistungsverfügung. Denn die Unterlassungsverfügung geht über eine bloße Sicherungsverfügung hinaus, da der Antragsteller während der Geltungsdauer der Verfügung sofort und vollständig befriedigt wird. Die Unterlassungsverfügung enthält damit wesentliche Elemente einer Leistungsverfügung (vgl. hierzu Cepl/Voß/Voß, ZPO, 3. Aufl. 2022, § 940 Rn. 38). Das gerichtliche Verbot im Rahmen einer Unterlassungsverfügung führt für einen gewissen Zeitraum zu einer Befriedigung des Unterlassungsanspruchs, es gelten jedoch "nur" die Anforderungen an eine Sicherungsverfügung gemäß § 935 ZPO (Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 3. Juli 2024 – U 1/24 Kart [Rn. 65]).

Dagegen bestehen für eine Leistungsverfügung grundsätzlich sehr strenge Voraussetzungen, da sie zu einer gesetzlich nicht vorgesehenen Vorwegnahme der Hauptsache führt. Ein auf vollständige Erfüllung des geltend gemachten Anspruchs gerichteter Eilantrag soll nur ausnahmsweise im Eilverfahren durchgesetzt werden. Denn der einstweilige Rechtsschutz dient der Sicherung eines Individualanspruchs und der vorläufigen Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses, nicht aber der endgültigen Befriedigung eines Anspruchs. Bei einer Leistungsverfügung muss der Antragsteller auf die sofortige Erfüllung so dringend angewiesen sein, dass er ein ordentliches Verfahren nicht abwarten kann, ohne einen unverhältnismäßig großen oder gar irreparablen Schaden zu erleiden. Die Situation, die den Erlass einer Leistungsverfügung rechtfertigt, wird in der Rechtsprechung regelmäßig als „Notlage“ bezeichnet, wobei die Anforderungen der Gerichte an den Verfügungsgrund bei einer Leistungsverfügung divergieren: Teilweise werden „unverhältnismäßige Vermögensnachteile“ oder „überragende Gründe“ für den Erlass einer Leistungsverfügung gefordert. In manchen Entscheidungen ist davon die Rede, dass eine Leistungsverfügung - etwa einer Belieferungsverfügung - nur dann in Betracht kommt, wenn sie „zur Behebung oder Abwehr eines Notstands", "einer außergewöhnlichen Notlage" oder einer „existentielle Notlage“ erforderlich ist  (vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 10. Oktober 2022 – 26 W 5/22 – Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Gazprom-Tochter; vgl. zum Sportrecht: Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. März 2024 – U (Kart) 2/23 und Beschluss vom 6. Mai 2024 – W (Kart) 3/24); zum Versicherungsrecht: Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 28. August 2023 – 4 U 117/23, zum Gesellschaftsrecht: Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 20. Juni 2024 – 8 W 10/24). 

Andere Gerichte lassen dagegen im Einzelfall „größere finanzielle Nachteile“ oder „nicht unerhebliche“ bzw. „wesentliche Wettbewerbsnachteile“ ausreichen. So hat das Oberlandesgericht Hamburg im Verfahren um digitale Mautvignetten im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung schon erhebliche Umsatzeinbußen ausreichen lassen, um einen Verfügungsgrund zu bejahen (Urteil vom 31. August 2023 – 15 U 18/23 Kart). Eine Notlage forderten die Hanseaten nicht. Noch weniger fordert das Oberlandesgericht Köln in einer aktuellen Entscheidung im Streit um die Lizenz eines Trainers. Die Kölner Richter schreiben, dass ein Antragsteller nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden könne, wenn die einstweilige Verfügung die einzige Möglichkeit des Antragstellers darstelle, sich kurzfristig die Möglichkeit auf Wahrung seiner Rechte zu sichern (Beschluss vom 5. Juli 2024 - 5 W 33/24).

Und in einem nach § 83 Abs. 1 EEG geführten einstweiligen Verfügungsverfahren auf Anschluss einer Stromerzeugungsanlage an das Energieversorgungsnetz wird das Eilbedürfnis sogar vermutet, jedenfalls nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Beschluss vom 16. Juli 2024 - 11 U 12/24).

Kurzum, an den Verfügungsgrund werden bei einer Leistungsverfügung unterschiedlich strenge Anforderungen gestellt, je nachdem vor welchem Gericht und in welchem Rechtsgebiet man sich befindet (vgl.  zu einstweiligen Verfügungen auf Belieferung, insbesondere im Kartellrecht / GWB - Berneke/Schüttpelz, Einstweilige Verfügung in Wettbewerbssachen, B. Die Grundlagen Rn. 75, beck-online).

Die geschickte Formulierung des Antrages kann entscheidend sein - Beispiel: Accountsperren

Neben den oben gezeigten divergierenden Anforderungen, welche Gerichte an den Verfügungsgrund einer Leistungsverfügung stellen, kann die Abgrenzung zwischen Unterlassung und Leistung im Einzelfall schwierig und die dogmatische Differenzierung mitunter künstlich erscheinen.

Wie schwierig in der Praxis die Abgrenzung zwischen Unterlassung und Leistung ist, zeigt die Rechtsprechung  des Bundesgerichtshofs zum Rückruf im Bereich des Wettbewerbsrechts und geistigen Eigentums. Demnach ist die Verpflichtung zur Unterlassung einer Handlung, wenn sie in einer Hauptsacheentscheidung oder einstweiligen Verfügung enthalten ist, regelmäßig so auszulegen, dass sie neben der Unterlassung auch die Verpflichtung zur Handlung umfasst. Der Schuldner  muss mehr machen, als nur etwas unterlassen. Er muss die ausgelieferte Ware bei seinen Abnehmern grundsätzlich zurückzurufen. Auch im Eilverfahren, nach Erlass einer Unterlassungsverfügung, muss der Unterlassungsschuldner aktiv werden und seine Abnehmer auffordern, die erhaltenen Waren im Hinblick auf die einstweilige Verfügung vorläufig nicht weiterzuvertreiben (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2017 – I ZB 96/16 – Produkte zur Wundversorgung; siehe auch Abrar, GRUR-Prax 2018, 136).  Das in Form eines Unterlassungsantrags geltend gemachte Begehren resultiert also letztlich (auch) in der Pflicht des Antragsgegners zur Vornahme einer Handlung. Der Antrag ist als Unterlassungsantrag formuliert, führt aber auch zur Vornahme einer Handlung.

Dass die Abgrenzung zwischen Unterlassung und Leistung im Einzelfall künstlich erscheint, zeigen gerichtliche Entscheidungen zur Sperrung von Accounts. Im Falle der Sperrung eines Accounts in sozialen Medien kann der Inhaber des Accounts im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Sperrung vorgehen. Ziel eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Plattformbetreiber wie X, LinkedIn oder Facebook ist die sofortige Aufhebung der Sperrung des Accounts.

Um dieses Ziel zu erreichen, kann der Verfügungsantrag entweder dahingehend formuliert werden, dass der Plattformbetreiber gerichtlich verpflichtet wird, die vorgenommene Sperrung des Accounts mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Wer einen solchen Antrag stellt, muss damit rechnen, dass das Gericht eine Leistungsverfügung annimmt und den Eilantrag wegen Vorwegnahme der Hauptsache zurückweist (so Oberlandesgericht Brandenburg, Urteil vom 21. Juli 2022 - 10 U 65/22).

Geschickter ist es, den Erlass einer einstweiligen Verfügung zu beantragen, mit der dem Plattformbetreiber untersagt werden soll, einen bestimmten Beitrag zu löschen und/oder den Antragsteller wegen dieses Beitrags auf der Plattform zu sperren. Für einen erfolgreichen Unterlassungsantrag genügt es im Eilverfahren zwar nicht, dass nach dem Wortlaut des Eilantrages eine Unterlassung formuliert wird, wenn der Antrag seinem Inhalt nach tatsächlich eine Leistung bezwecken soll. Denn die Gerichte stellen nicht auf den Wortlaut der Antragsformulierung, sondern auf die einheitliche Zielrichtung des Antrages ab (Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 28. April 2017 - 6 U 152/16 - Rn. 31).  Wer jedoch den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt, mit der dem Plattformbetreiber untersagt werden soll, den Antragsteller wegen dieses Beitrags auf der Plattform zu sperren,  vermeidet damit regelmäßig eine Diskussion der Frage, ob es damit um eine Leistungsverfügung oder Unterlassungsverfügung geht. Denn regelmäßig bejahen die Gerichte bei einer solchen Antragsformulierung den Verfügungsgrund (Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 29. September 2022 - 15 U 43/22 [Rn. 26]). Durch eine kluge und richtige Antragsformulierung lässt sich ein Gericht bei Accountsperren regelmäßig überzeugen, dass es nicht um eine „verkappte“ Leistungsverfügung, sondern um eine Unterlassungsverfügung geht.

One Moment in Time – Leistungsverfügung bei der Sperre von Sportlern?

Olympische Sommerspiele. "One Moment in Time" (Whitney Houston, 1988, Seoul). Wer als Sportler einmal im Leben Gelegenheit hat, an Wettkämpfen wie Olympia, einer Europameister- oder Weltmeisterschaft teilzunehmen, für den geht es genau darum. One Moment in Time. Wer vor einem solchen Ereignis gesperrt wird, kann im Wege der einstweiligen Verfügung gegen die Sperre vorgehen.

Ist das eine Leistungsverfügung, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf entschieden hat (Urteil vom 14. Oktober 2015 – U (Kart) 9/15 - Bridge-Weltmeisterschaft)? Oder kann es sich bei dem Eilantrag nicht auch um eine Unterlassungsverfügung handeln, weil dem betroffenen Verband die Sperrung des Sportlers untersagt werden soll, was letztlich zu einer Teilnahme führen kann. Wie bereits erwähnt, stellt die Rechtsprechung an eine Unterlassungsverfügung deutlich geringere Anforderungen als an eine Leistungsverfügung.

Der Versuch, das Gericht durch die richtige Antragsformulierung davon zu überzeugen, dass es sich um eine Unterlassungs- und nicht um eine Leistungsverfügung handelt, kann sich lohnen. Schließlich geht es nicht nur um die einzige Möglichkeit, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen, sondern um Umsatzeinbußen, um den erheblichen Verlust von Vermarktungsmöglichkeiten. Es würde dem Eilverfahren auch und insbesondere in solchen Fällen guttun, wenn die Gerichte der gebotenen Interessenabwägung im Rahmen des Verfügungsgrundes und den Besonderheiten des Einzelfalls mehr Beachtung schenken - statt die Entscheidung über den Verfügungsgrund primär von der dogmatisch oft fraglichen Einordnung abhängig zu machen, ob es sich um eine Leistungs- oder eine Unterlassungsverfügung handelt. Wie gesagt, die Differenzierung zwischen Leistungs- und Unterlassungsverfügung erscheint bisweilen künstlich, zumal jede Unterlassungsverfügung teilweise eine Leistungsverfügung ist und auch die Zurückweisung eines Eilantrags für einen gewissen Zeitraum zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führt (vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 3. Juli 2024 – U 1/24 Kart [Rn. 65]).

Rechtfertigt also im Einzelfall wirklich nur eine „existenzielle Notlage“ den Erlass einer Eilentscheidung zugunsten des Sportlers? Oder können im Einzelfall drohende erhebliche Umsatzeinbußen (vgl. Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 31. August 2023 - 15 U 18/23 Kart), ein erheblicher Reputationsverlust und die Tatsache, dass es um „One Moment in Time“ geht, eine Eilentscheidung zugunsten des Sportlers rechtfertigen?